Die Geschichte zum Plissee
„Sie kennen sich da bestimmt besser aus als ich.
Zumindest im Bereich Fensterdekoration.
Wenn man etwas erbt, ist das Geerbte in der Regel schon etwas älter….
So ging es mir auch.
Ich erbte sogar gleich ein ganzes Haus von meinen Eltern, in welchem ich aufgewachsen war, aber schon seit Jahrzehnten nicht mehr gelebt hatte. Ich bin nämlich weit über fünfzig Jahre alt. Als ich dieses Haus dann mit anderen Augen betrat, nicht als Besucher meiner Mutter mit Kuchen in der Hand, sondern als jetziger Besitzer, fielen mir zu meinem Erstaunen Dinge auf, die mir als Besucher nicht in den Blick gekommen waren. Was für alte Tischdecken, welch unmoderner Wandschmuck… und was für Gardinen und davor sogar manchmal Vorhänge an den Fenstern. Selbst der modern klingen wollende Ausdruck „oldschooled“ war nicht mehr passend. Und dann kann der Todesstoß für alle Gardinen dieser Welt – ich bekam Besuch! Eine Frau nicht ganz in meinem Alter mit ihrem Mann. Wir wollten ein Glas Wein trinken. Es war ihr erster Besuch in diesem Haus, welches zu beziehen ich gedachte. Somit war es in der Tat noch nicht auf meinem Stand der Einrichtung, geschweige denn auf dem der Moderne.
Mein weiblicher Besuch stand in meinem Esszimmer und schaute sich um. Ich hatte irgendwie schon das Gefühl, hier stimmt was nicht. Aber nur aus dem Augenwinkel, denn ihr Mann, mein Freund, und ich unterhielten uns unterdessen über Männersachen. Gardinen gehören nicht dazu. Seine Frau nun ging her, einfach so, und schob von den Fenstern im Esszimmer einfach die Gardinen zur Seite, denn so modern war mein Elternhaus schon, dass sie auf Schienen an der Decke befestigt hin und her zu bewegen waren. Der Raum war nicht nur im Nu heller, sondern auch größer. Natürlich war er nicht größer plötzlich – aber irgendwie doch. Meinen Anteil am Männergespräch ließ ich nun kurz ruhen und schaute etwas genauer hin.
Das war die Geburtsstunde eines Plissees in diesem Raum, obwohl ich damals noch nicht wusste, dass es so ein Wort überhaupt gibt. Weiß, lichtdurchlässig, frei bewegbar. Sie sehen, ich habe nicht nur ein neues Wort kennengelernt, sondern auch mittlerweile die Feinheiten seiner Bedeutung, was dazu geführt hat, dass die Idee des Plissees von meinem Esszimmer weitergewandert ist ins Schlafzimmer und die Küche. Und diese Wanderung ist noch nicht beendet.“